Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 01.05.2025, 18:59   #284
Leopold
Erfahrener Benutzer
 
Benutzerbild von Leopold
 
Registriert seit: 04.08.2019
Ort: NRW
Beiträge: 613
Themenstarter
Standard

Von Zeit zu Zeit schreibe ich gerne. Gestern habe ich einen Beitrag über meinen Charade bei Facebook veröffentlicht, ich bin Mitglied einer Gruppe über alte, aber nicht sonderlich gefragte Autos. Weil mir danach war, habe ich einen recht derben, aber humorvollen Text über die Ausstattung und Eigenarten des 4WD verfasst. Ich habe das als sehr langes Zitat angehangen. Die Resonanz war verblüffend, damit hatte ich wirklich nicht gerechnet: über 350 Kommentare und mehr als 1.500 "gefällt mir". Die Kommentare sind ausschließlich positiv, ich war echt baff.

Zitat:
Daihatsu Charade Allrad – das Manifest des unterschätzten Wahnsinns

Manche Menschen träumen von Lamborghinis, andere von Teslas. Ich? Ich fahre einen Daihatsu Charade 4WD von 1988. Einen Karren, der aussieht wie ein Schuhkarton mit Rädern. Ob Schlamm, Regen, Schnee oder der schlechte Asphalt vor der Dorftankstelle – der Charade frisst das alles weg wie ein Besoffener um drei Uhr morgens eine Dose Ravioli. Der Innenraum? Ein Traum in grauem Hartplastik. Komfort? Fehlanzeige. Aber dafür spürst du jede Bodenwelle, jede Schraube, jeden Stein. So nah warst du der Straße noch nie. Es ist wie Yoga für den Rücken – nur ohne Entspannung und mit mehr Bandscheibenvorfällen. die Heizung hat genau zwei Einstellungen: "Hölle" und "Arktis". Die kann nur "Aus", "Laut" und "Ganz Laut".

Aber wisst ihr was? Ich liebe ihn. Denn in einer Welt voller Einheitsbrei, digitaler Assistenzsysteme und SUVs mit mehr Knöpfen als ein Raumschiff ist mein Koffer jetzt was besonderes. Und das mit Allradantrieb.

Kein „Bitte lesen Sie die digitale Bedienungsanleitung“, Kein Schneeflockensymbol auf dem Tacho das einem sagt, dass es draußen kalt ist. Kein Display in der Frontscheibe. Irgendwo in der Bedienungsanleitung steht, dass man hin und wieder mal die Räder über Kreuz tauschen sollte. Und dass man gefälligst das Öl zu kontrollieren hat.



Das Ding kann man gefühlt mit fluchen, einem 12er Schlüssel, Panzertape und „Joa, so wird das schon passen“ wieder zusammenschustern. Die Karre drum herum? Ha, geschenkt, jede Coladose macht einen stabileren Eindruck. Rost gibts ab Werk, der hat viele dahin gerafft. Aber der Motor? 1.3 Liter, reicht das zum Brötchen holen? Viel mehr als das, der hat Feuer im Ofen für eine ganze Bäckerei. Der ist ein kleiner Wüterich, ein Alublock mit Stahlseele, sogar am Nockenwellenrad wurde ein Lochkreis gesetzt, denn wer braucht schon unnötiges Gewicht? Nockenwelle? Hohl. Kurbelwelle? Auch hohl. Den mit Vollgas-Orgien kaputt machen? Dann schmier‘ dir ein paar Stullen und pack die Brotdose ein, das wird nämlich dauern. Der ist so robust wie Omas Thermoskanne. Ein paar Sensoren für’s nötigste, 10w60 schmeckt dem gut, und Drehzahl hat der von hier bis nach Meppen. Dieses Ergebnis japanischer Ingenieurskunst in der „Kleiner-Hubraum“- Kriegsführung läuft so zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk auf Red Bull – kaum Elektronik, dafür um so mehr ehrliches Feuer im Block. Nur wer sich vor Lautstärke scheut, der ist hier falsch. Unter 4.500 u/min isses unauffällig. Jenseits der 4.500 Touren prügeln die Kolben ihren Zorn seit nunmehr 1988 in die Kurbelwelle, auch wenn er Richtung 7.000u/min akustisch den Anschein macht, er wolle einen Satz Pleuel über die Stratosphäre zurück nach Osaka in Japan schießen (da wurde der Krawallzwerg nämlich gebaut). 90 Pferde auf kleinem Raum treten sich ja auch gegenseitig auf die Hufe und lärmen dann. Und weil man alles so leicht gehalten hat wie ich meinen Kontostand nach der Ersatzteilsuche, schieben die 90PS gerade mal 870 Kilo durch die Gegend.

Dabei wird nix dem Zufall überlassen – der hat nämlich schon eine Kennfeldzündung, die zuverlässig aus Saugrohrdruck, Last und diversen Temperaturen das passende Kennfeld würfelt.

Außer unter Teillast – da wird auf Umweltschonendes Lambda 1 geregelt, EURO 1 – das Konto sagt danke. Eine elektronische Fehlerdiagnose für die Einspritzung ist auch an Bord, und ein Notlaufprogramm wenn das Lambdasignal ausfällt, damit der Motor nicht zu mager läuft.

16 Ventile, eine Nockenwelle - der atmet tiefer ein als ich nach’m Treppensteigen.

Ein Kleinwagen? Ja. Günstig? Auch. Aber der hat so viel Technik unter der Haube, dass sich manch größere vorkommen wie wie labbrige Weißbrote – günstig, weich und völlig geschmacksneutral.

Das Fahrwerk ist spannend: Einzelradaufhängung rundherum, hinten doppelte Querlenker. In einem Auto kaum größer als ein Einkaufswagen. Jedes Rad macht sein eigenes Ding. Weil das noch nicht gereicht hat (oder so) haben sie dem Ding auch noch Stabilisatoren vorne und hinten verpasst. Warum? Keine Ahnung, wahrscheinlich, weil sie’s konnten.

Ein Allradantrieb lag wohl auch noch auf Lager: wühlt sich durch Schnee wie der Teufel durch Koks. Manuell kann man da mal so gar nix dran umstellen, keine Fahrtmodi wählbar. Der macht einfach 50% vorne, 50% hinten - fertig. Vorne im Getriebe hockt das Mitteldifferential, eng eingebaut wie ein kleiner Wutkobold, der die Antriebskräfte gerecht verteilt. Warum vorne in der Getriebeglocke? Das Ding hat unten keinen Platz mehr frei. Platz ist rar bei dem Dingen, dann stopft man halt das Getriebe voll. Vorderachsdiff, Mitteldiff, fünf Gänge. Kann man sonst noch was da rein stecken? Daihatsu hat es geschafft, noch was unterzubringen: Eine kleine Viskosekupplung. Mitteldifferential mit automatischer Visko-Sperre die bei Schlupf sagt:

„Ach, du hast keinen Grip? Dann kriegst du jetzt mal so gar nix mehr, dann dreh' ich halt an 'nem anderen Rad – rüber mit der Kraft zur anderen Achse!“
Und dann wird die Leistung wild dahin geschaufelt, wo die Haftung besser ist.

Da wurde sich nicht überlegt wie man einen Allradantrieb benutzerfreundlich gestalten kann. Die haben einfach gesagt:

„Komm, mach rein das Ding. Und zwar so, dass der Fahrer nichts kapieren muss, aber trotzdem über den Acker pflügen kann wie ein Besessener.“

Da fragt man sich, was sich die Ingenieure Ende der 80er dabei gedacht haben. Sind die nach langem überlegen und reichlich Schnaps vielleicht auf einmal aufgesprungen und haben freudestrahlend gerufen: „Ich hab's! Wir machen einfach alles rein, was wir haben!“

Das Ergebnis? Ein „Fick dich“ der Ingenieure ans Preiskalkulationsbüro.

Und wie fährt die Möhre jetzt? Schnell.

Der hat ungefähr das gleiche Temperament wie ein leicht irrer Samurai kurz vor Ende der Rebellion 1877. Die wussten auch dass die Zeit gekommen ist und haben trotzdem noch einige mitgenommen. Bis der letzte Funke da vorne gezündet wird feiert der Motor die Party seines Lebens. Letztlich lenkt man in die Richtung der Begierde und die Möhre schrubbt fröhlich der Lenkradstellung hinterher.

Wer Gebärdensprache kann ist im Vorteil: dann kann man sich nämlich auch bei 130 und Pedal to the Metal noch mit dem völlig verängstigten Beifahrer unterhalten, während man gnadenlos vom Triebwerk weggebrüllt wird. Denn eines lehrt der kleine Motor: auch mit so viel Drehmoment wie ein Thermomix und weniger Hubraum als ne Flasche Mineralwasser kann man Sprit in sehr viel Lärm verwandeln.

Es hat auch Vorteile ein lautes Auto zu fahren - man hört den Strudel der nahenden Insolvenz nicht den die Benzinpumpe im Tank verursacht. Im täglichen Mischmasch schlürft der irgendwas zwischen 7 und 8 Liter auf 100 aus dem Tank. Wenn man sich aber fernab jeglichen Selbsterhaltungstriebs Richtung vMax aufmacht, Inhaliert der ganz fix 11. Wie gut dass der keine Tanklampe hat und die Anzeige so ungenau ist wie das Zeitfenster eines Kundendienstmonteurs. Da fehlt laut dem dummen Schätzeisen auch Mal ein Viertel nach fünf rumgegurkten Kilometern.

Naja, was soll's, tanken wir halt der Sicherheit halber alle 300km den Eimer voll.

Ich kann mir ja schlecht einen allradgetriebenen Pisskoffer kaufen und dann jammern dass er säuft wie ein durstiger Bierkutscher.

Kennt ihr die Stelle aus "König der Löwen", wo Papa Löwe seinem kleinen Dulli-Balg erklärt dass ihm alles gehört was das Licht berührt, nur das schattige Land nicht? Ich habe gerade die schlechteste Metapher für einen Drehzahlmesser geschaffen wo gibt. Das "schattige Land" ist der böse rote Bereich, Simba ist der Zeiger im Kombiinstrument und sagt "Mir egal, ich hab den ganzen Tacho bezahlt, also benutze ich auch den ganzen Tacho", deshalb zieht der die Drehzahl bis kurz vor 7 ½, bevor der Begrenzer seine Arbeit aufnimmt und nett fragt, ob man nicht doch mal schalten möchte.

Im Winter kann man, weil jegliche Assistenzsysteme durch Abwesenheit glänzen, herrlich dumme Sachen machen und sich auf der Stelle drehen wie ein kleiner Brummkreisel. So lange bis man sich das letzte Fressi fast noch Mal durch den Kopf gehen lässt.

Aber es macht ja niemand Sachen, die gegen die Verkehrsregeln verstoßen.

Kostenpunkt für diesen kleinen Berserker um 1988: 20.300 DM. Die Presse sagte damals, man bekäme sehr viel Auto für das Geld.

Kratzer, eine Sammlung Hagelschäden und eine Spraydosenlackierung gibt’s oben drauf. Optisch kann man sagen was man will – aber das Ding hat eine Seele. Der war öfter beim TÜV als so mancher in der Schule. Optik kommt irgendwann wenn wir Zeit und Nerven haben. mit 36 Jahren schonungsloser Benutzung darf man abgerockt aussehen - Ein Held des Alltags.
Angehängte Grafiken
Dateityp: jpg Screenshot_2025-05-01-18-53-12-170-edit_com.facebook.katana.jpg (836,0 KB, 13x aufgerufen)
__________________
Leopold ist offline   Mit Zitat antworten